
Im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen 2017 gab es ja bei uns in Deutschland ein vertieftes Medieninteresse am Zustand des Nachbarlandes. Aufgefallen ist sind mir u.a. der Bericht von Ullrich Fichtner & Julia Amalia Heyer „Außer Atem“ im Spiegel (2017, 16, pp.84-90) und die Diskussionsrunde „Was ist bloß los mit uns“ von der Georg Blume und Gero von Randow in der Zeit berichten (die Zeit, 12. April 2017, pp. 8 – 9.) sowie die bemerkenswerte Kooperation der Zeit mit Le Monde „Frankreichs-Wahl – Bonne Chance Frankreich“. Allerdings hat le Monde nur einen kleinen Teil der in der Zeit abgedruckten Beiträge übernommen. Bei diesen vom Monde übernommen Beiträgen ist mir vor allem der von Martin Walser aufgefallen:„Les Français, le peuple d’Europe le plus difficile à gouverner“ . Er ist der einzige der Beiträge, der nicht übersetzt wurde, d.h. er wurde von Walser selbst auf Französisch verfasst. Das ist schon mehr als bemerkenswert, denn diesseits des Rheines gehen die französischen Sprachkenntnisse immer mehr zurück – und manchmal frage ich mich wie kann man das „Land westlich der Rheins lesen“ – wenn man nicht mal mehr die Sprache kennt. So wundert es einen kaum, dass von unseren „Frankreichexperten“ – der Begriff „la France périphérique“, ein Begriff der vom Geographen Christophe Guilluy in seinen diversen Büchern[1] thematisiert und popularisiert wurde, unbekannt zu sein scheint. Der Geograph Christophe Guilluy ist ein freiberuflicher Geograph und Publizist, der schon seit Jahren in seinen Büchern auf die wachsende Zweiteilung Frankreich, d.h. den wachsenden Metropolen mit den Globalisierungsgewinnern (dabei rechnet er die Banlieues durchaus auch zu den Globalisierungsgewinnern) und andererseits den Globalisierungsverlierern in den ländlichen Regionen Frankreichs verweist. So erklärt Guilluy schon seit Jahren den nachhaltigen Wahlerfolg des Front national mit dieser Zweiteilung der französischen Geographie. In dem Beitrag von Heinz Bude „Nirgendwo ist das Volk so weit weg von den Eliten“ in dem Zeit Special „Frankreichs-Wahl – Bonne Chance Frankreich“ wird das Problem thematisiert – auch wenn Bude die „France périphérique“ nicht beim Namen nennt. Bude scheint mir in diesem Sinne der einzige Experte, der den Dingen auf den Grund geht und der das Problem beim Namen nennt: die immer mehr fortschreitende Entfremdung zwischen einem Großteil der französischen Bevölkerung und den politischen Eliten.

Ich kenne diese France périphérique, die Christophe Guilluy in seinen Büchern immer wieder thematisiert, sehr gut da ich genau in den Landschaften dieser France périphérique seit fast dreißig Jahren arbeite. Landflucht, Biomassenakkumulation, Waldbrände und Waldbrandrisiken so stellt sich diese France périphérique im mediterranen Südfrankreichs in den Augen des physischen Geographen, des Landschaftsökologen, des Geobotanikers dar. Manchmal ist die Wirklichkeit komplexer: einerseits verbuscht die Landschaft und andererseits weitet sich die Siedlung im Sog der prosperierenden Großstädte wie Marseille, Nîmes, Montpellier. Die Pavillionärzonen (im frz. zone pavillonnaire) greifen immer mehr um sich – man nennt das u.a californisation, pérurbanisation, reurbanisation, periurbanisation etc. (im amerikanischen Englischen auch als wild-urban interface/forest –urban interface, urban sprawl bezeichnet)). Das macht das Ganze dann im Sommer, in der Waldbrandsaison, so gefährlich. Durch die Verzahnung von Vegetation und Siedlung können die Waldbrände dann tödlich enden.
Das ist das andere Gesicht der sogenannten France périphérique im mediterranen Südfrankreich. Ich möchte mich jedoch gar nicht damit aufhalten, sondern auf ein anderes Phänomen hinweisen mit dem sich die „France périphérique“ für den aufmerksamen Beobachter im Gelände manifestiert. Es ist der Zerfall des französischen Eisenbahnwesens. Wir kennen in Deutschland vor allem den TGV und die TGV Strecken, aber außerhalb dieser TGV-Strecken gibt es weite Teile Frankreichs, in denen es überhaupt keine funktionierenden Eisenbahnsysteme mehr gibt – bzw. wo das Streckennetz, mangels Investitionen in die Infrastruktur einen langsamen, aber scheinbar unaufhaltsamen Tod stirbt. Die beiden ersten Bilder, die ich hier veröffentliche, die Streckeneindrücke, die ich im Herbst 2014 entlang der Bahnstrecke Lunel – Aimargues – Le Caylar – St.Gilles – Arles festgehalten habe, habe ich schon im Blogartikel Gare de Gallician 27.09.2014 13 heures 20 veröffentlicht (einer der vielen französischsprachigen Blogbeiträge in denen der Landschaftswandel in dieser France périphérique thematisiert wird). Es ist die Momentaufnahme des Niederganges einer Eisenbahnstrecke auf der vor ein paar Jahren noch mehrmals am Tag Güterzüge fuhren. Güterzüge die u.a. das Städtchen St.Gilles bedienten, sowie die Industrie- und Hafenanlagen in Arles – la Trinquetaille.

Ähnliche Bilder findet man wohl in großen Teilen des periphären Frankreichs. Hierzu braucht man nicht bis ans Mittelmeer fahren, es reicht der Weg über die Pfalz nach Lothringen oder ins Elsass. Jenseits der Grenze verfällt der Bahnhof von Bitche langsam vor sich hin -um nur ein Beispiel zu nennen – und dort, wo noch Züge fahren hat man angesichts der sichtbaren Verfalls der Eisenbahninfrastruktur das Gefühl, sich irgendwo im „wilden Westen“ aber nicht im Land der TGV’s zu befinden. Das letzte Bild zeigt eine Baleine (Sncf X73500), die an einem beschaulichen Sommer – Sonntagmorgen den Bahnhof Lauterbourg mit dem ersten Zug Richtung Strasbourg verlässt.
Soweit die Wähler in der France péripherique tatsächlich zu den Wahlurnen finden und wählen entscheiden sie sich in der Regel für die Parteien mit den einfachen Antworten. Bei diesen Präsidentschaftswahlen sind das Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon. Wobei es gar nicht um die einfache Antworten geht, sondern um die Tatsache, dass sich die Menschen in der France péripherique von den traditionelle Parteien einfach nicht mehr wahrgenommen fühlen. Marine Le Pen und in Teilen auch Jean-Luc Mélenchon geben den Menschen in der France périphérique das Gefühl, ernst genommen zu werden. Deshalb werden sie auch gewählt. Vom Rest der Republik fühlen sie sich schlichtweg verraten und vergessen. Zu Wahlzeiten kommt mal ein Reporter aus Paris aufs Land gefahren -oder sogar ausländische Journalisten, wie letzthin der Spiegel in Hayange (Frankreich vor der Wahl Ein Leben unterm Front National) im Land der Minette – wo früher die Hochofen glühten und das Erz der Minette zu Stahl verschmolzen, und jetzt nachdem der letzte Hochofen schon längst erkaltet ist, auf lokaler Ebene der Front National schon regiert. Und immer scheint es seit Jahren das gleiche Lied zu sein, der FN gewinnt wieder ein paar Prozent dazu- und der Sommer wird wieder übers Land ziehen, in Südfrankreich werden wieder die „Cigallen“ singen und es wird, dank Mehrheitswahlrecht, wieder nicht viel geschehen.

Wenn die politischen Eliten der traditionellen Parteien ihren „Winterschlaf“ weiter fortführen und die Sorgen der France périphérique schlichtweg ignorieren bzw. verschlafen wird irgendwann der mathematische Damm des Mehrheitswahlrechts brechen und dann wird es ungemütlich werden. Soweit es nochmals ein gemäßigter Kandidat ins Präsidentenamt schafft, dann sollte er sich an eine echte Reform der Institutionen der 5. Republik wagen. Die Verfassung der 5. Republik hat der französischen Republik wertvolle Dienste geleistet, in dem sie u.a. Frankreich im Zuge der Wirren um die Unabhängigkeit Algeriens vor einem Bürgerkrieg bewahrt hat. Aber nun stehen andere Herausforderungen an. Ich denke, im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung, auch an die Reform des Wahlrechtes für die Nationalversammlung, d.h. Einführung eines Verhältniswahlrechtes nach deutschem Vorbild (Koppelung von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht wie bei deutschen Bundestagswahlen). Das wäre bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung. Und dann gilt es endlich auch an die France périphérique zu denken und endlich auch dort wieder in die öffentliche Infrastruktur zu investieren. Wobei ich da nicht nur an das Wiederbeleben des Eisenbahnnetzes hors TGV, sondern auch an die Einrichtung des schnellen Internets auch in den Corbières, den Nordvogesen etc. denke. Es gäbe wahrlich viel zu tun. Dazu braucht es natürlich auch einen dezidierten politischen Willen.
Ich habe diesen Beitrag schon vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen verfasst. Inzwischen liegen die Ergebnisse dieser ersten Runde vor, – Emmanuel Macron und Marine le Pen werden in die Stichwahl am 7. Mai kommen. Legt man eine Karte der Eisenbahnstreckenstilllegungen über die Karte der Gemeinden in denen Le Pen die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, wird man feststellen, dass es Übereinstimmungen gibt. Die „France périphérique“ im Sinne der Definition von Christophe Guilluy hat vor allem Marine Le Pen, aber auch in Teilen Jean Luc Melenchon gewählt. Der Bahnhof von Gallician, den ich im Herbst 2014 abgelichtet hatte, liegt auf der Gemarkung Vauvert. Dort hat am Wahlsonntag Marine Le Pen 37, 02% der Wahlstimmen erhalten und ist damit Wahlsieger vor Jean-Luc Mélenchon mit 21,86% geworden. Der PN 19, d.h. der Bahnübergang 19 befindet sich in Franquevaux, was wiederum zur Gemarkung Beauvoisin gehört. Dort hat Marine Le Pen 37,23% der Wahlstimmen vor Jean-Luc Mélenchon (17,93%) bekommen. Wenn man den Verlauf der besagten Bahnstrecke Lunel – Aimargues – Le Caylar – St.Gilles – Arles weiter nach Osten verfolgt kommt man nach St. Gilles. Auch dort hat Marine Le Pen mit 40,01% der Stimmen vor Jean-Luc Mélenchon mit 19,24% gewonnen[2]. Die anderen Kandidaten folgen weit abgeschlagen hinter den beiden. Man könnte das Gedankenexperiment an anderen stillgelegten Eisenbahnstrecke in der France périphérique wiederholen – ich vermute man würde wohl ähnliche Ergebnisse erhalten.
Ich denke, dass, wenn die französische Politik der France périphérique nicht mehr Gehör schenkt, dies irgendwann zur Katastrophe führen wird. Es gibt ein anderes Zeichen, welches man auch als „Nichtgeograph“ durchaus lesen und daraus erkennen kann, dass irgendetwas in dieser sogenannten France périphérique nicht stimmt. Ich habe das Gefühl, dass abseits der touristischen Zentren, – im ländlichen Frankreich – die Bistro’s und Cafés immer seltener werden. Ich wünschte mir es wäre anders!
Bücher:
Guilluy, Christophe (2013): Fractures françaises. Paris, Flammarion – Champs essais ISBN 978-2-0812-8961-1
Guilluy, Christophe (2015): La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires. Paris, Flammarion –Champs Actuel, ISBN 978-2-0813-4751-9
Guilluy, Christophe ( 2016 ): Le Crépuscule de la France d’en Haut. Paris, Flammarion, ISBN 978-2-0813-7534-5
Photos alle © Christophe Neff
Christophe Neff, 25.04.2017
[1] Guilluy, (2013): Fractures francaises. ; Guilluy (2015): La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires. Paris, ; Guilluy, ( 2016 ): Le Crépuscule de la France d’en Haut. Genaue Bibliographische Angabe sind im Bücherverzeichnis zu finden.
[2] Die Wahlergebnisse stammen von der Seite http://www.lemonde.fr/data/france/presidentielle-2017/ von dort aus lassen sich (bzw. ließen sich) die Wahlergebnisse der 23.04.2017 aller französischen Kommunen abrufen.