Blognotiz 16.11.2014: Novembererinnerungen an Saulgau – Gedanken zum Volkstrauertag 2014

Grünstadt im Novembermorgennebellicht 15.11.2014
Grünstadt im Novembermorgennebellicht © C.Neff 15.11.2014

Grünstadt tauchte gerade aus dem Novembermorgenlicht, als ich die Traueranzeige, die ein Herr Dr. Michael Stahl, im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung des 14.11.2014 veröffentlichte, entdeckte. „Wanderer kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl (1795)[1]Den Gefallenen unserer Familie zum ehrenden Gedächtnis, den Lebenden zur Mahnung“. Es folgen 6 Namen der Familie Stahl, Namen von Soldaten die zwischen 1914- 18 und 1939 – 45 in Frankreich, Russland, und der Ukraine gefallen sind ….. Am Schluss der Anzeige kann man lesen, Dr. Michael Stahl, geboren 1959, lebt seit 55 Jahren in Frieden und Freiheit.

Die Worte  des mir unbekannten Dr. Michael Stahl hatten mich beeindruckt, – auch ich lebe nun schon seit 50 Jahren in Frieden und Freiheit, – vor allem weckten die Worte der Traueranzeige Kindheitserinnerungen. Erinnerungen an die herbstlichen und winterlichen Reisen zur Familie meines Vaters ins oberschwäbische Saulgau. Damals in den 1960er und 1970er Jahren, hieß das heutige Bad Saulgau[2] noch einfach Saulgau. Die Familie meines Vaters stammte aus Saulgau[3], und wir fuhren natürlich nicht nur in den Herbst- und Wintermonaten nach Saulgau, – aber aus einem mir unbekannten Grund häuften sich die Besuche in den Monaten November und Dezember[4]. In meiner Erinnerung haben sich zwei Ereignisse aus diesen „Herbst & Winterreisen“ nach Saulgau eingeprägt, – zum einen die Eisenbahn, – die kleine Modellbahn, – die Märklinbahn die man uns vom „Pischl“ mitbrachte, – damals war in Südwestdeutschland der Name Märklin das Synonym für Spielzeug & Modelleisenbahnen – und natürlich die große Bahn, – meine Großeltern wohnten in der Karlstraße genau gegenüber dem Saulgauer Bahnhof. Mein Großvater Anton Neff war Geschäftsführer einer Spedition, der Wilhelm Schramm KG, die ursprünglich aus einer Bahnspedition hervorging, – und die noch in den 1970 Jahren die Kohlen und das Heizöl, welches rund um Saulgau vertrieben wurde, per Bahn im „Wagenladungsverkehr“ erhielt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich meinen Onkel Ewald beim „Entladen“ der Kohlewagen begleitete, –  wie wir dann im Mercedeslaster (wahrscheinlich ein Kurzhauber L322) die Kohlen ins Lager fuhren. Die Großeltern zogen dann später in ein Haus in der Hindenburgstraße nahe dem Saulgauer Friedhof, und danach in eine Wohnung in einem der Hochhäuser an der Bad Buchauer Straße überhalb des Friedhofes. Von der Wohnung in der Bad Buchauerstraße hatte man fast einen Rundumblick über das Städtchen Saulgau, im Süden hatte man einen Blick auf die Bahnlinie nach Altshausen/Aulendorf und im Norden/Nordosten blickte man über den Saulgauer Friedhof Richtung Bussen. Die Tage, soweit ich mich erinnern kann, begannen mit dem Einfahrt des Güterzuges aus Aulendorf, meist von einer 50 (oft mit Kabinentender) gezogen, eine lange Dampffahne hinter sich herziehend. Der Tag endete dann meist, mit der Abfahrt des abendlichen Güterzuges nach Aulendorf, der in den frühen 1970er Jahren von einer 211 oder 212 gezogen wurde. Ja, und abends, wenn die Nacht einbrach, schweifte dann der Kinderblick, über den von Grablichtern erleuchteten Friedhof zum Bussen. Die Grablichter Oberschwabens haben mich als Kind so beindruckt, – dass ich viele Jahre später, bei einem Flug über Sibirien, zwischen dem Blick auf die unendlichen Wald- und Schneelandschaften und der Lektüre von  Pierre Michons Buch  (2010): „Le roi vient quand il veut. Propos sur la littérature“, an die roten leuchtenden Grablichter in Oberschwaben, dem Blick über den Saulgauer Friedhof denken musste[5].

Die Toten, die Vermissten, die Gefallen der Weltkriege, – aber auch die Gespräche über die, die als für immer Gezeichnete aus dem Krieg zurückkamen, – das waren die Gespräche, die mir aus diesen Kindheitstagen, den Herbsttagen in Saulgau in Erinnerung geblieben sind. Er war eine Welt zwischen Eisenbahnen, Gefallenen, Kriegsgezeichneten, Kriegsversehrten ….

scan briefe aus dem ostenManchmal fielen auch solche Worte wie, – nach Stalingrad, da wussten wir, dass der Krieg verloren waren,  – und dann fiel manchmal eine beklemmende Stimmung über die Familienrunde, – Opa und Oma[6], der Paul, die Vroni, die Rita …. Was ich damals noch nicht wusste war, dass der „Verlobte“ meiner Tante Rita, eigentlich meiner Großtante Rita Schramm, in Stalingrad vermisst wurde. Er gehörte der   305 Infanteriedivision an, einem Wehrmachtsgroßverband der im Raum Ravensburg ab Dezember 1940 aufgestellt wurde, der sogenannten Bodenseedivision, – einer Division die im Winter 1942/43 in der Schlacht von Stalingrad unterging. Die 305 Infanteriedivison wurde in Stalingrad vollständig vernichtet, – nur ein paar wenige, eine kleine Handvoll Soldaten kehrten nach dem Krieg nach Süddeutschland zurück. Als die 305 ID vor Stalingrad unterging, – als es keine Lebenszeichens mehr von den Männern aus Stalingrad gab, wusste man in Saulgau (und in vielen anderen Orten Deutschlands auch), dass der Krieg verloren war. Viele Jahre später, nach diesen Herbstbesuchen in Saulgau in den frühen 1970er, begann mein Vater in den Jahren 1984/1985 mit den Arbeiten an dem Buch „Briefe aus dem Osten“[7], – Buch welches er dann letztendlich im Selbstverlag im Januar 1990 herausbrachte. Es enthält die kommentieren Briefwechsel meiner Großtante Rita Schramm mit dem Leutnant der Reserve Hans Lehmann der am 4.1.1943 vor Stalingrad vermisst wurde. Hans Lehmann gehörte der Divisions Nachrichtenabteilung 305, der 305 Infanteriedivision an. Während mein Vater mit den Arbeiten an dem Buch „Briefe aus dem Osten“ beschäftigt war, begann ich in Calw beim Fallschirmjägerbataillon 251[8] meine Ausbildung zum Reserveoffizier[9]. Mein Vater hat sich sehr schwer damit getan, dass ich mich zum Reserveoffizier habe ausbilden lassen. Die Arbeiten zum Buch „Briefe aus dem Osten“ hatte er, so lässt sich aus dem Anhang des Buches entnehmen, im Jahre 1985 weitgehend abgeschlossen, –  der Druck erfolgte jedoch erst im Januar 1990. Wieso entzieht sich meiner Kenntnis. Ich hielt das Buch, zum ersten Mal als Leutnant d. R. der Bundeswehr im Herbst 1990 in den Händen.

Im November und Dezember, den Nebeltagen, die im Herbst und zum Winterbeginn in Grünstadt doch recht zahlreich sind, diese grauen Tage lassen mich an die Herbsttage meiner Kindheit in Saulgau erinnern,  an die Geschichte von Rita Schramm und des Leutnant Lehmann, – und die seiner tausenden von Kameraden die nicht aus Stalingrad zurückgekommen sind.

Ja, bei den Herbstgesprächen, sowie ich sie als Kind erlebte, – und so wie diese mir in Erinnerung geblieben sind, –  war der Krieg, bzw. die Kriegsgeschehnisse, – die Gefallenen, die äußeren und inneren Verwundungen, – dieses Krieges, bzw. dieser Kriege, denn manchmal hallten auch noch die Erinnerung an die „Verwundungen“ des ersten Weltkriegs bei diesen Herbstgesprächen durch. Der Krieg war in diesen Tag immer noch in Saulgau zuhause, genauso wie er meine französische Familie jenseits des Rheins in Eckbolsheim, in Aubord nie ganz verlassen hatte[10].

Die Traueranzeige & Gedenkanzeige von Dr. Michael Stahl, hat mich auch daran erinnert, dass der Krieg damals als ich noch Kind war Ende der 1960, Anfang der 1970 Jahre, doch noch im Gedächtnis der Familien weiterlebte, immer und unter der  Oberfläche weiternagte – und irgendwann bei den Familiengesprächen wieder auftauchte. Die Gefallenen, die Vermissten, die Heimkehrer waren noch nicht vergessen. Von den dreizehn Kindern, meiner Urgroßmutter Augustine Neff aus Munderkingen, von den 11 Kindern die sie großgezogen hat, haben manche zwei Weltkriege erleben müssen. Bei den Herbstaufenthalten in Saulgau, war auch manchmal vom Joseph Neff die Rede. Joseph Neff, Redemptoristenbruder, der soweit ich weiß, an der Folgen der im ersten Weltkrieg erlitten Verletzungen, verstorben ist[11]. Manchmal fielen auch die Worte, – Christophe du siehst dem Joseph so ähnlich. Den Joseph habe ich nie gekannt, -geblieben sind die Erinnerungen an ein paar Familiengespräche, über einen Menschen der auch Opfer eines dieser Kriege wurde, der Mitteleuropa in den letzten hundert Jahren heimgesucht hatte. Wer erinnert sich noch heute an den Redemptoristenbruder Joseph Neff, der an den Folgen seiner im ersten Weltkrieg erlittenen Kriegsverletzungen verstarb? Auch daran musste ich denken, als ich die Trauer & Gedenkanzeige für die in beiden Weltkriegen gefallenen Mitglieder der Familie Stahl aus Göppingen gelesen habe. An den Joseph, – aber auch an den Paul, – einem der zahlreichen Brüder des Joseph Neff, – dem Paul hatte der zweite Weltkrieg das Augenlicht geraubt.

Ähnlich wie der Auftraggeber der Todes & Gedenkanzeige Herr Dr. Michael Stahl, für die in den beiden Weltkriegen gefallenen Mitglieder der Familie Stahl aus Göppingen bzw.  Süßen, habe ich das Glück seit nun fünfzig Jahren, in der Mitte Europas in Frieden und Freiheit zu leben.

Dieses Glück ist jedoch nicht vom Himmel gefallen, – dieses Glück haben wir solchen Frauen und Männern zu verdanken die nach dem zweiten Weltkrieg bereit waren über ihren Schatten zu springen, das Erlebte und Erlittene am Wegesrand zurückzulassen …. und ein neues Europa auf den Trümmern die der zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, aufzubauen. Das sollte man anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum Volkstrauertag[12] nicht ganz vergessen. Dies waren u.a.  Simone Veil, Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Robert Schuman, Jean Monnet, Carlo Schmid, Willy Brandt, François Mitterrand, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow , Robert Ditter, Konstantin Hank – und viele andere mehr bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten ….

Quellen:

Neff, Winfried (Hrsg) (1990): Briefe aus dem Osten. Herausgegeben und Kommentiert von Winfried Neff. Graphik Uwe Rettkowski. Schramberg 1990[13].

Photos & Scans:

Grünstadt im Novembermorgennebellicht © C.Neff 15.11.2014

Voderseite Buchdeckel „Briefe aus dem Osten (Neff, W. 1990)“

Christophe Neff,  Grünstadt geschrieben am Volkstrauertag 2014 (16.11.2014)


[1] Zu diesen Zeilen von Friedrich Schillers Gedicht «Der Spaziergang» (1795) siehe auch die empfehlenswerte Lektüre des von Lukas Thommen vor über zehn Jahren in der NZZ veröffentlichten Aufsatzes „Wanderer, kommst du nach Sparta . . . Rückblick auf einen Mythos

[2] Einen gelungen Internetauftritt  über das heutige Bad Saulgau des 21 Jahrhunderts findet man unter den Seiten „Schönes Bad Saulgau“.

[3] Im Grunde genommen waren die Saulgauer Neffs, ursprünglich eine Munderkinger Familie.

[4] Einer der  Gründe dürfte bestimmt die Adventszeit vor Heiligabend gewesen sein, aber das war für meine Eltern denke ich, bestimmt nicht der Hauptgrund für die herbstlichen Saulgaufahrten gewesen sein, vor allem erklärt das nicht die häufigen Fahrten Ende Oktober/Anfang/Mitte November.

[6] Oma und Opa,  das war das Ehepaar Anton Neff (1904- 1977)  und Blanka Neff geborene Schramm (1912-1992).

[7] Das bemerkenswerte an dem von meinen Vater herausgegebene Buch „Briefe aus dem Osten“ist, dass das Buch sich dem Medium der „Feldpostbriefe“ widmete, und zwar lange bevor die historische Forschung den „Feldpostbrief“ als Forschungsgegenstand entdeckte. Weiterhin erwähnenswert erscheint mir, dass das Buch einer der wenigen (deutschsprachigen) Werke ist, welches Angaben, über die fast vergessene 305 Infanteriedivision, die sogenannte „Bodenseedivision“ enthält.

[8] Das Fallschirmjägerbataillon 251 war Teil der Luftlandebrigade 25, der sogenannten „Schwarzwaldbrigade“.

[13] Mein Vater hat die meisten Exemplare dieses Buches in seinem persönlichen Freundes & Bekanntenkreis verteilt. Ein Exemplar befindet sich im Bestand der Universitätsbibliothek Mannheim. Nach seinem plötzlichen Tod im Januar 1992 wurden ein paar Exemplare im weiteren Freundeskreis der Familie Neff Schramberg verteilt. Nach dem Verkauf des elterlichen Hauses im Lärchenweg 63, in Schramberg-Sulgen im Jahre 2005, wurden die wenigen verbliebenen Restexemplare zusammen mit dem Privatarchiv meines Vaters dem Stadtarchiv Schramberg übergeben.

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