Zurzeit lese ich Kolkhoze, den neuen Roman von Emmanuel Carrère. Ich hatte mir den Roman nach der Lektüre der Rezension „La smala d’Abd-el-Carrère mise à nu“ von Pierre Assouline in „La République des livres“ für meinen Tolino gekauft[1]. Ein paar Wochen später schickte mir ein Freund die begeisterte Kritik von Johanna Adorján in der Süddeutschen[2]. Der Freund aus München kommt wie ich selbst aus dem Schwarzwald, und wir teilen Lektüren und Buchrezensionen nun schon seit vielen Jahrzehnten. Er ist auch ein begeisterter und regelmäßiger Leser der Süddeutschen Zeitung , was ich selbst nicht bin. Aber mit dem Freund teile ich die Meinung, dass die Süddeutsche wohl die einzige verbliebene überregionale liberale Tageszeitung Deutschlands ist.
Und dann stoße ich irgendwann in „Kolhoze“ auf diesen Satz mit diesem Wort, das ich noch nie gehört hatte: „vazvrachentsy“ „Les chiffres sont incertains. Il semble qu’ils aient été entre cinq et dix mille, qu’on a appelés vazvrachentsy – les ‚retournants‘.“ („Die Zahlen sind ungewiss. Es scheint, dass es zwischen fünftausend und zehntausend waren, die man Vazvrachentsy nannte – die ‚Rückkehrer‘.“)(Carrére, 2025, p.85)
Ich gebe das Wort bei Google in mein „Schlautelephon“ ein – und dann die Überraschung: Google kann gerade mal sechs Links angeben, wobei Doppelungen dabei sind. So etwas habe ich schon lange nicht mehr erlebt, nämlich dass die Googlesuch – Maschine nur so dürftige Antworten liefert. Ich klicke auf den ersten Link „Welt im Taumel: Emmanuel Carrère – Rentrée littéraire“ und lande beim Literaturblog des Romanisten Kai Nonnenmacher. Hier finde ich nicht nur eine kleine Worterklärung: „Die Geschichte der vazvrachentsy (Rückkehrer), die nach der Revolution in die Sowjetunion zurückkehrten und dort im Gulag landeten, ist eine Mahnung an diejenigen, die an Putins Versprechungen glauben könnten (Kai, Nonnenmacher, Welt im Taumel: Emmanuel Carrère, 03.09.2025)“, sondern eine komplett äußerst detailreiche Rezension des Romans und auch des gesamten literarischen Werks von Carrère. Das war mehr als eine positive Überraschung. Ich hatte bisher noch keine so umfassende literarische Würdigung des Werks von Carrère auf Deutsch gelesen. Nonnenmacher ist Professor für Romanistik an der Universität Bamberg und befasst sich schon von Berufs wegen mit französischer Literatur. Dennoch beeindruckt sein Literaturblog. Fast alle französischsprachigen Bücher, die ich in den letzten Monaten gekauft und gelesen habe, werden darin besprochen. Bemerkenswert sind darin auch die Besprechung von „Houris“ von Kamel Daoud „Die Jungfrau im lebendigen Diesseits: Kamel Daouds Doppelroman“ oder auch der Kommentar zur Festnahme Boualem Sansal im November 2024 „Boualem Sansals Festnahme und ein Raumschiff“[3]. Wer sich im deutschsprachigen Raum ernsthaft mit französischer Literatur befasst kommt an Nonnemachers Literaturblog „Rentrée littéraire: französische Literatur der Gegenwart“ kaum vorbei!
Es fehlt „L’heure des prédateurs[4]“ von Giuliano da Empoli. Das ist wahrscheinlich eines der besten „geopolitischen“ Sachbücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Das Buch erscheint jetzt auch unter dem Titel „Die Stunde der Raubtiere“ in der Übersetzung von Michaela Meßner auf Deutsch[5]. Hingegen findet man in Nonnenmachers Blog eine Rezension des Romans „Le Mage du Kremlin“ von da Empoli unter dem Titel „Russland als Albtraummaschine des Westens“. Vielleicht werden in Nonnenmachers Blog aber auch keine französischen Sachbücher rezensiert.
Ich selbst bekomme meine Einblicke in die französische Literaturwelt durch meine eigenen Lektüren, aber auch das regelmäßige Lesen des „Monde des livres“ und der Literaturblogs „La République des livres“ von Pierre Assouline. Für alle, die des Französischen nicht mächtig sind, bietet der Literaturblog „Rentrée littéraire: französische Literatur der Gegenwart“ einen hervorragenden Einblick in das aktuelle Literaturgeschehen in Frankreich und der frankophonen Welt. Ich bin persönlich wirklich sehr überrascht, dass es so etwas jenseits kommerzieller Erwägungen überhaupt noch gibt. Im kommerziellen Feuilleton unserer überregionalen Tages- und Wochenzeitungen findet man derlei tiefgründige Rezensionen französischsprachiger Bücher nur noch selten. Aber wahrscheinlich fehlt es auch an entsprechenden Redakteuren, die des Französischen überhaupt mächtig sind.
Was mir in der beeindruckenden Rezensionsliste von Nonnenmacher etwas gefehlt hat, ist das Buch, mit dem ich sozusagen meinen Sommer verbracht habe: „Dictionnaire amoureux de Pouchkine[6]“ von André Markowicz[7]. Wobei man bei diesem Buch trefflich streiten kann, ob es nur ein Sachbuch ist – oder eben Literatur. Immerhin hat mich die Kenntnis der russischen Literatur schon vor über zwölf Jahren zu dem wenig schmeichelhaften Vergleich von Nikolaus I. von Russland und Wladimir Putin geführt – man kann das auch in diesem Blogbeitrag „Blognotice 22.12.2013: De Dostoïevski à Mikhaïl Khodorkovski“ immer noch nachlesen. Die Lektüre des Romans von Carrère erlaubt es mir, mein literarisches Russlandbild wieder zu erweitern. Er bietet jedoch durchaus interessante Einblicke in die neuere französische Geschichte wie auch die französische Literaturgeschichte.
Ob Carrères Roman es nun schafft, endlich den begehrten Prix Goncourt zu bekommen, weiß ich nicht – aber ich halte es für durchaus möglich. Immerhin gibt es da ja noch die Konkurenz der Romans „la maison vide“ von Laurent Mauvignier[8]. Übrigens äußert sich Nonnenmacher auch zu diesen Buch, siehe „Die unauffindbare Medaille: Laurent Mauvignier“.
Nach den ersten 126 Seiten des Roman „Kolkhoze“ habe ich jedoch nicht den Eindruck, dass das die primäre Absicht von Carrère war. Er schreibt vor allem über seine Familiengeschichte – und diese ist sehr eng verzahnt mit der russischen Welt, mit der russischen Geschichte der letzten 150 Jahre. Sollte es den Prix Goncourt für das Buch geben auch gut !
Und was das Wort „vazvrachentsy“ betrifft, habe ich mich bei „Le Chat AI Mistral“, also der französischen Antwort auf ChatGPT und Co., erkundigt – und diese Antwort erhalten: „Das Wort ‚Vazvrachentsy‘ (auf Russisch: возвращенцы) ist ein russischer Neologismus und bedeutet wörtlich ‚Rückkehrer‘ oder ‚Heimkehrer‘. Es bezieht sich auf Menschen, die nach Russland zurückkehren, oft nach einem längeren Aufenthalt im Ausland – sei es aus beruflichen, politischen oder persönlichen Gründen.“
Vielmehr kann ich derzeit über den Roman Kolkhoze nicht schreiben, da ich erst auf Seite 126 (Tolino-Paginierung) angekommen bin. Aber immerhin weiß ich jetzt mit dem Wort „Vazvrachentsy“ etwas anzufangen. Hinter dem Wort verbirgt sich ja auch eine sehr traurige Geschichte. Die Vazvrachentsy, also die „Russes blancs“, die Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg auf Einladung Stalins in die Sowjetunion zurückkehrten, also dem Wort Stalins glaubten, landeten meistens im Gulag oder in der Verbannung, soweit man sie nicht gleich hinter der sowjetischen Grenze erschoß.
Bibliographie:
Da Empoli, Giuliano (2022) : Le Mage du Kremlin, Roman. Paris, Éditions Gallimard, 21 mars 2022, ISBN 978-2-07295819-9
Da Empoli, Giuliano (2025) : L’heure des prédateurs. Paris, Éditions Gallimard, 2025 Paris, ISBN 978-2-07311323-8
Da Empoli, Giuliano (2025) : Die Stunde der Raubtiere. Macht und Gewalt der neuen Fürsten. Aus dem Französischen von Michaela Meßner.
Daoud, Kamel (2024) : Houris, roman. Paris, Éditions Gallimard, 2024. ISBN 978-2-07300002-6
Carrère, Emmanuel (2025): Kolkhoze. Paris, 2025 © Emmanuel Carrère et P.O.L éditeur, 2025, © P.O.L éditeur, 2025 pour la version numérique. ISBN 978-2-81806198-5
Markowicz, André (2025) : Dictionnaire amoureux de Pouchkine. Dessins d‘ Alain Bouldouyre d’apres Alexandre Pouchkine. Paris, 2025 , © Éditions Plon, un département de Place des Éditeurs, 2025, ISBN 978-2-259-31829-7
Mauvignier, Laurent (2025) : La maison vide. Roman. Paris : Les Éditions de minuit, ISBN 978-2-7073-5674-1
Christophe Neff, Grünstadt im Oktober 2025
[1] Zu meinem Tolino siehe auch „Une liseuse « Tolino“ pour délester ma bibliothèque ».
[2] Hierzu „Emmanuel Carrère Dafür sollte er endlich den Prix Goncourt bekommen“, Johanna Adorján, Süddeutsche Zeitung 11 September 2025.
[3] Zur Festnahme Boualem Sansal durch die algerischen Behörden siehe auch „Poste restante : Alger – pour ne pas oublier Boualem Sansal !“.
[4] Rezension des Buch finden sich u.a. in Le Monde unter den Titeln „Dans « L’Heure des prédateurs », Giuliano da Empoli analyse le fonctionnement des « seigneurs de la tech » L’écrivain italo-suisse peint, dans son dernier essai, une fresque des César Borgia du monde contemporain. » Nicolas Truong Le Monde 21.04.2025 “ und „ Giuliano da Empoli, un portraitiste de l’« internationale réac » Auteur du best-seller « Le Mage du Kremlin », le politiste italo-suisse vient de publier « L’Heure des prédateurs ». Un essai dans lequel cet ancien conseiller politique livre les ressorts du nouveau désordre mondial. Clémentine Goldszal, Le Monde 16.04.2025 “.
[5] Eine lesenswerte deutschsprachige Buchkritik von „die Stunde der Raubtiere“ kann man unter „Die Stunde der Raubtiere: Warum die Gegenwart so erschreckend an das Italien des Cesare Borgia erinnert“ in der Leipziger Zeitung finden.
[6] Eine ausgezeichnete Rezension des Buches findet von Pierre Assouline findet man hier „Pouchkine, c’est la Russie“
[7] Siehe hierzu u.a. « Blognotice 22.06.2025: canicule et Fête de la musique & Dictionnaire amoureux de Pouchkine » und « Blognotice 31.08.2025 : les Sternbergia lutea en fleurs, l’automne approche ».
[8] Hierzu auch die Buchkritik « Ce quelque chose d’absent qui tourmentait Laurent Mauvignier » von Pierre Assouline.
